In „Selbstbildnis als Kranker“ porträtiert sich Kirchner bettlägerig in einer
Graubündner Bauernstube. Der Kopf ist nach rückwärts aus dem Bildraum und
gleichsam einem imaginären Besucher zugewandt. Die rechte Hand wird in einer
Geste des Erschreckens zum Mund geführt; das Gesicht ist gezeichnet von der
Wahnvorstellung, in das Schlachtengetümmel des Kriegs zurückkehren zu müssen.
Diese tiefe, durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste seelische Zerrüttung hatte bereits 1915 zur Entlassung aus dem Militärdienst geführt und Kirchner seit 1917 wiederholt die Schweiz aufsuchen lassen. Die zusätzliche Abhängigkeit von Veronal und Morphium machte Aufenthalte in Sanatorien von Davos und Kreuzlingen unumgänglich, die durch Sommermonate auf der Stafelalp oberhalb von Frauenkirch bei Davos ergänzt wurden; im Herbst 1918 bezog Kirchner schließlich das Haus „In den Lärchen“, dessen Stube im Gemälde abgebildet ist. So kann entgegen der Datierung auf dem Gemälde als Entstehungszeit eben dieses Jahr angenommen werden, während der Künstler mit der Vordatierung des Bildes möglicherweise auf seinen seelischen Zustand der vergangenen Monate referiert. In der Schweiz suchte Ernst Ludwig Kirchner einen Neubeginn für sich selbst; „Selbstbildnis als Kranker“ markiert aber mehr als nur einen Wendepunkt im Schaffen des Künstlers. Nach dem Rückzug aus der Großstadt Berlin und den Wirren des Kriegs spiegelt das Werk über das persönliche Befinden hinaus die Verlorenheit und das Fremdsein eines expressionistischen Lebensgefühls, das sich in den Hoffnungen auf einen „neuen“ Menschen getrogen sah. Der individuelle Zusammenbruch aber auch der Verlust der einstigen Utopien verdichtet sich in „Selbstbildnis als Kranker“ zu einem exemplarischen wie einzigartigen Kunstwerk und zeitgeschichtlichen Dokument.