Zu den seltenen Figurenbildern im Werk des Stillleben- und Landschaftsmalers Alexander Kanoldt zählt diese Darstellung, die motivisch dem Verismus eines Otto Dix nahe zu stehen scheint. Schonungslos konfrontiert der Maler dem Betrachter die Dirne, der er durch die präzise, nüchterne Sicht jegliche erotische Ausstrahlung einer expressionistisch aufgefassten Kokotte nimmt. So zuständlich wie der Vorhang wird die Matrone zur reinen Bestandsaufnahme, zum Stück. Der unbeteiligte Blick registriert die roten Strümpfe und den weißen Unterrock ebenso gleichwertig wie das entblößte Fleisch und das Gesicht, in dem sich hartes Leben, Verschlossenheit und misstrauische Distanz spiegeln. Die Intaktheit, das „klassische“ Gleichgewicht, die Ruhe und Ordnung des Porträts sind trügerisch. Überscharf und oberflächengenau gesehen, präsentiert sich die Realität als verdinglichtes und entfremdetes Gegenüber. Die annähernd frontale Position, die Rahmung von Stuhl und Vorhangbahn sowie die radikale Überschneidung durch den unteren Bildrand erzeugen einen Ort absoluter Unfreiheit für die Frau. Obwohl Kanoldt die kritische Überzeichnung von Dix vermeidet und vor allem die Bildtektonik als ausgleichendes Moment wirken lässt, entlarvt er hier,
fernab der neuromantischen Verbrämung wie sie der Münchener Neuen Sachlichkeit etwa bei Carlo Mense und Georg Schrimpf eigen ist, eine Form der Beziehungslosigkeit und Skepsis, die wohl auch als symptomatisch für das Lebensgefühl der so genannten Goldenen Zwanziger anzusprechen ist. Das in Breslau
entstandene Bild – Kanoldt gibt der Frau als Attribut das Vanitas-Symbol des Spiegels in die Hand – will auch Metapher für Vergäng lichkeit sein.