Im Frühjahr 1913 reiste Franz Marc nach Südtirol. Wenig später entstanden die
beiden allegorischen Landschaften „Das arme Land Tirol“ (Guggenheim Museum, New York) und „Tirol“. Im Titel des früheren Bildes ist ausgesprochen, was auch unser Bild zeigt. In merkwürdigem Gegensatz zu der kristallinen Bergwelt in strahlender Farbigkeit erscheint Tirol selbst als ein trostloses, abgestorbenes Land. Besonders deutlich wird die Drohung des Todes in dem gefällten schwarzen Baum, der wie eine Sense schräg nach links ins Bild hineinragt. Unzufrieden mit dem Naturalismus des Bildes, hat Marc das Gemälde 1913 aus dem Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin zurückgezogen und überarbeitet. Während in der ersten Fassung noch die Sonne im Zentrum stand, hat Marc nun in der Bildmitte Maria als apokalyptisches Weib auf der Mondsichel dargestellt. Damit wird das Naturgeschehen, der Kampf zwischen dem Licht der aufgehenden Sonne und dem Schatten der weichenden Nacht, mit dem christlichen Heilsgeschehen und mit der Situation Europas unmittelbar am Vorabend des Ersten Weltkriegs verknüpft. Maria als Schutzmantelmadonna in der vom Tod bedrohten Tiroler Bergwelt ist bei Marc ein „Sinnbild sieghaften Glaubens an die Kräfte des Geistes gegenüber der Materie“ (Klaus Lankheit). Die Farb- und Form facettierung, die die Alpen wie leuchtende Bergkristalle aussehen lassen, zeigen Marcs Auseinandersetzung mit dem Futurismus und mehr noch mit dem spektralfarbigen Orphismus Robert Delaunays. Delaunays dynamisch zum Himmel hinaufwachsende Eiffeltürme sowie seine prismatischen Fenster-Bild der haben Marcs „Tirol“ offensichtlich beeinflusst. Der rational gefügte Farbbau Delaunays, gedacht als
Hymnus an die Weltstadt Paris, verwandelt sich bei Marc jedoch in eine mystische
Traumwelt, wird zum Gleichnis der Welt schöpfung und ihrer erhofften Erneuerung.