In den Themen Varieté und Zirkus spiegelt sich die Konfliktsituation des spätbürgerlichen Bohemien und gebildeten Künstlers: Die Inszenierung von Abenteuer, unverfälschtem Leben, Kraft und Aggressivität ist Konsequenz eines ausgeklügelten Dressurakts. Hier ist der vermeintliche Freiraum des Großstädters, der sich das Abenteuer mit einer Eintrittskarte erkauft, um es aus gesicherter Distanz zu betrachten, statt es zu suchen und selbst direkt zu erleben. „Cirkus“ spiegelt somit deutlich die Bewunderung des Künstlers für eine exotisch fremde Gegenwelt, die ihm jedoch auch zum Gleichnis der eigenen Situation wird. Grundlage für Kirchners Komposition war offensichtlich Georges Seurats Bild „Der Zirkus“ von 1891 (Musée d’Orsay, Paris), das er jedoch stark uminterpretierte. Die dekorative Wirkung bei Seurat weicht einer beunruhigenden Stimmung, die durch Kirchners für diese Zeit typischen, nervösen, an den Gegenstandsrändern splittrigen Pinselduktus, durch die Beschränkung der Palette auf Schwarz, Grau-Grün und Rot und schließlich durch die Konfrontation von zwei unterschiedlichen Perspektiven er zeugt wird. Während die beiden akklamierenden „Anheizer“ in Clowns kos tümen und die drei rot livrierten Männer am Zirkuseingang fast frontal gesehen sind, erscheinen Manege und schwarz gekleidetes Publikum in extremer Aufsicht, wodurch der Eindruck entsteht, die Zuschauer würden nicht das spannende Geschehen in der Manege verfolgen, sondern blicklos nach unten starren. Pferd und Reiterin nehmen beide Perspektiven auf und wirken dadurch zugleich überproportioniert und verzerrt. Publikum, Pferd und Reiterin verbindet nicht mehr die spannungsreiche Atmosphäre des Zirkusgeschehens, sie spielen einen isolierten Part – dort die anonyme, gesichtslose Menge, hier die für sich agierende Akrobatin, verbunden untereinander nur durch die Künstlichkeit der Beleuchtung und eine aggressive Farbigkeit.